28. Okt. 2025 · 
MeldungKultur

Josef Schuster: „Kultur muss Jüdisches aushalten, auch wenn es nicht unpolitisch ist“

Sechs Jahre nach dem Anschlag von Halle kritisiert der Zentralratsvorsitzende die fehlende Solidarität der Kultur. Im Fußball gebe es mehr Unterstützung, sagen jüdische Autoren.

Es waren überraschend hemdsärmelige Worte für einen „Kulturellen Abend“: „Die Kultur hat sich nicht mit Ruhm bekleckert“, stellte Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Sprecher der Initiative „Kulturelle Integration“, selbstkritisch fest. Damit meint er den Umgang mit jüdischen Künstlern und Intellektuellen einerseits, andererseits auch den blinden Fleck, den manche deutschen Kulturinstitutionen bei antisemitischen Vorfällen zu haben scheinen. Zimmermann erinnerte in der Villa Seligmann, dem Zentrum für jüdische Kultur in Hannover, daran, dass Juden in Deutschland nicht erst seit Beginn des Gazakrieges gefährdet sind: „Seit 2020 haben die Übergriffe um mehr als 400 Prozent zugenommen.“ Eine Zäsur, berichtete Gastgeber Eliah Sakakushev-von Bismarck sehr persönlich, war der Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019, am Feiertag Jom Kippur: Ein Anschlag auf das jüdische Leben in Deutschland, das er und viele andere „mühsam und mit viel Liebe“ aufgebaut haben. Sakakushev-von Bismarck selbst war gerade in der Synagoge in Hannover, als er mit wachsender Unruhe die Präsenz von Polizeiwagen bemerkte. Als gläubiger Jude benutzte er am Feiertag kein Handy, deswegen erfuhr er erst später von dem Attentat. Die Polizeipräsenz vor den Synagogen und vor der Villa Seligmann ist seitdem nötig geblieben.

Ein weißhaariger Mann spricht vor Publikum, hinter ihm eine Orgel.
Josef Schuster forderte in der Villa Seligmann mehr Offenheit der Kulturszene für jüdische Stimmen. | Foto: Beelte-Altwig

Um der Eskalation von Antisemitismus etwas entgegenzusetzen, haben die Initiative „Kulturelle Integration“, die Bundesbeauftragten für Kultur und für jüdisches Leben und der Zentralrat der Juden in Deutschland 2020 gemeinsam die Aktionstage „Vielfältiges jüdisches Leben“ ins Leben gerufen. Im sechsten Jahr nach Halle blickten die Veranstalter mit viel Prominenz zurück. Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden, weiß von zahlreichen jüdischen Kulturschaffenden, denen in den vergangenen Jahren Aufträge verloren gegangen sind, die ausgeladen und vertröstet wurden. Die Ausladung der Münchner Philharmoniker und ihres israelischen Dirigenten Lahav Shani in Gent sei nur das bekannteste Beispiel. „Kultur muss ein Raum sein, der das Jüdische aushält, nicht nur, wenn es unpolitisch ist“, forderte Schuster. Die Initiative „Kulturelle Integration“ gebe „Stimmen Raum, ohne vorzuschreiben, wie sie zu klingen haben.“ Lob gab es von Schuster auch für die Politik, die sich nach dem Vorfall in Gent geschlossen solidarisch gezeigt habe. „Als Jude einen Schritt in die Öffentlichkeit zu machen, ist seit zwei Jahren gleichbedeutend mit einem Fadenkreuz auf der Stirn“, sagte der Schriftsteller Monty Ott. Gemeinsam mit Ruben Gerczikow hat er ein Buch zu jüdischer Fußballkultur herausgegeben. Ultras von Werder Bremen, berichtete Gerczikow, unterhalten enge Beziehungen zu Fangruppen in Israel. Zwei Personen aus dieser Szene gerieten als Geiseln in die Hand der Hamas, eine von ihnen starb. Die Werder-Fans organisierten eine Welle der Unterstützung und setzten sich hartnäckig für die Freilassung der Geiseln ein. „In Kultur und Politik habe ich das schmerzlich vermisst“, sagte Gerczikow. Zimmermann war die Beschämung anzumerken: „Der Fußball ist uns voraus? Das möchte ich gerne wieder umdrehen.“ Angefangen, meint er, habe die Entfremdung mit der Documenta 2022. „Es ist nicht gelungen, in hundert Tagen eine vernünftige Debatte zu führen“, kritisierte Zimmermann. Mehrfach betonte er: „Boykotte darf es im Kulturbereich nicht geben.“

Fünf Personen diskutieren vor Publikum an einem Stehtisch, dahinter eine Orgel
Olaf Zimmermann und Moderator Henrik Szántó diskutieren mit jüdischen Kulturschaffenden: Evgeniya Kartashova, Ruben Gerczikow und Monty Ott (v.l.) | Foto: Beelte-Altwig

Im Obergeschoss der Villa Seligmann ist eine Auswahl von Arbeiten aus dem Fotowettbewerb zur ersten Ausgabe der Aktionstage zu sehen. Auf einem Bild hat sich Evgeniya Kartashova selbst dargestellt: Mit Zigarette und knalligem Lippenstift räkelt sie sich in der Badewanne. Um sie herum schwimmt frittiertes Gebäck im Badewasser. Dezent auf dem Fenstersims steht eine Menora, ein siebenarmiger Leuchter als Symbol des Judentums. Im Gespräch berichtete Kartashova, warum das Bild entstanden ist: „Ich habe mich über meinen Chef geärgert. Er hat mich vorgestellt als eine Dame, die jüdisch aussieht.“ Darauf wollte sie antworten, indem sie die Vielfalt des Jüdischseins zeigt. Der Schriftsteller Ron Segal berichtete von seinen Besuchen in Schulen. „Ich frage immer: Was haben eure Urgroßeltern zwischen 1933 und 1945 gemacht? Dann melden sich wenige.“ Schüler wüssten zwar, dass es Nazis gegeben habe, aber das sei lange her und habe nichts mit ihnen zu tun. „Sie identifizieren sich mit den Opfern und stellen keine Fragen nach den Tätern.“

Dieser Artikel erschien in Ausgabe #191.
Anne Beelte-Altwig
AutorinAnne Beelte-Altwig

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Josef Schuster: „Kultur muss Jüdisches aushalten, auch wenn es nicht unpolitisch ist“