16. Sept. 2025 · 
Blick in die WirtschaftEnergie

Katherina Reiches Kurskorrektur bei der Energiewende spaltet Niedersachsen

Katherina Reiche will die Energiewende stärker am Markt ausrichten. In Niedersachsen stößt das auf Zustimmung – aber auch auf scharfe Kritik.

Katherina Reiche stellt in Berlin den Monitoringbericht zur Energiewende vor. | Foto: Youtube/Screenshot: Link

Kaum war der neue Monitoringbericht zur Energiewende vorgestellt, da prallten die Meinungen auch schon aufeinander: Für die einen ist er der lange geforderte Realitätscheck, für die anderen der Anlauf für eine fossile Rückwärtsrolle. Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) selbst machte indes bei der Vorstellung des Berichts deutlich, worin sie ihre Aufgabe sieht: Die Energiewende bezahlbar machen – weg von der "Subventionslogik", hin zu mehr Markt. "Insbesondere der Zahlungsfähigkeit der Unternehmer und der Verbraucher ist bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Der sich aus den Grenzen der Zahlungsfähigkeit öffentliche Finanzbedarf für die Unterstützung der Transformation ist noch nicht belastbar berechnet worden", stellte die frühere Chefin der Eon-Tochterfirma Westenergie fest. Sie betonte: "Der Weg zu nachhaltig bezahlbarer Energie benötigt mehr Markt, mehr Technologieoffenheit und Instrumente, die Innovation fördern und gesellschaftliche Akzeptanz erhöhen."

Der 259-seitige Bericht, erstellt vom Energiewirtschaftlichen Institut aus Köln und dem Beratungsunternehmen BET, versteht sich selbst als "Bestandsaufnahme" und liefert folgende zentrale Ergebnisse: Die Energiewende ist auf Kurs, die Klimaziele bleiben erreichbar, die Ausbauziele von 80 Prozent Erneuerbaren bis 2030 gelten weiter. Doch die Herausforderungen wachsen: Statt 550 Terawattstunden wird Deutschland bis 2030 zwischen 600 und 700 Terawattstunden Strom benötigen. Grund dafür sind vor allem neue Rechenzentren, die Elektrifizierung von Verkehr und Wärme sowie der Hochlauf einer Wasserstoffwirtschaft. Beim Netzausbau sieht die Studie große Engpässe. "Ein zeitgerechter Netzausbau wird durch Hemmnisse entlang sämtlicher Verfahrensschritte der Projektrealisierung erschwert", heißt es da. Planung und Genehmigung sind immer noch zu kompliziert, zudem bremsen Engpässe bei Personal und Beschaffung die Netzbetreiber aus. Probleme gibt es auch bei Bau, Akzeptanz und den finanziellen Ressourcen.

  • Zehn Maßnahmen für mehr Wettbewerb: Reiche interpretiert den Bericht als Mandat für eine Kurskorrektur in der deutschen Energiepolitik. Sie präsentierte zehn Maßnahmen, die den Markt stärken und die Kosten senken sollen. Erstens: Eine ehrliche Bedarfsermittlung und mehr Planungsrealismus. Zweitens: Die Förderung der Erneuerbaren soll stärker am Markt ausgerichtet und systemdienlich geschehen. Drittens: Netze, Erneuerbare und dezentrale Flexibilität sollen künftig besser aufeinander abgestimmt werden. Viertens: Ein technologieoffener Kapazitätsmarkt soll schnell eingeführt werden. Fünftens: Die Flexibilität und Digitalisierung des Stromsystems sollen vorangetrieben werden. Sechstens: Die bestehenden Energiemärkte sollen einheitlich und liquide bleiben. Siebtens: Förderregime sollen überprüft und Subventionen schrittweise abgebaut werden. Achtens: Forschung und Innovationen sollen gezielt gestärkt werden. Neuntens: Der Wasserstoff-Hochlauf soll pragmatischer gestaltet und von überflüssiger Bürokratie befreit werden. Zehntens: CO2-Abscheidung, Speicherung und Nutzung (CCS und CCU) sollen als Klimaschutztechnologien etabliert werden.
Beim Parlamentarischen Abend von Avacon und Tennet plädiert Christian Meyer (Mitte) für einen schnelleren Netzausbau. | Foto: Avacon
  • Meyer kritisiert „fossile Rolle rückwärts“: Niedersachsen kommt im Bericht namentlich nicht vor. Aus Hannover hagelte es dennoch scharfe Kritik: „Bundesministerin Reiche will die bislang erfolgreiche Energiewende ausbremsen und die fossile Rolle rückwärts hin zu teuren Energien“, schimpfte Umwelt- und Energieminister Christian Meyer (Grüne). Er rechnete vor, dass neue fossile Gaskraftwerke im Süden „mehr als 32 Milliarden Euro an Subventionen erfordern, die auch bei uns im Norden die Strompreise um mehr als 2,1 Cent für Haushalte und Wirtschaft verteuern würden“. Weiter sagte Meyer: „Der von der Bundesministerin verfolgte Einsatz von CCS ist eine Sackgasse für die erfolgreiche Transformation und blendet die viel zu hohen Umweltrisiken und Kosten der CO2-Speicherung komplett aus.“ Niedersachsen setze weiter auf flexible Strompreise, differenzierte Netzentgelte und den Vorrang von Erdkabeln – alles Maßnahmen, die die Akzeptanz erhöht und den Netzausbau beschleunigt hätten. „Statt dem fossilen Stoppschild von Frau Reiche, das Zehntausende Arbeitsplätze bei uns gefährdet, braucht es endlich verbrauchsorientierte flexible Strompreise, Stromzonen und Netzentgelte, die marktwirtschaftliches und netzdienliches Verhalten belohnen“, betonte Meyer.
Verena Kämmerling sieht eine große Diskrepanz zwischen dem Energiewendebericht und der Energiepolitik der Landesregierung. | Foto: CDU
  • Kämmerling fordert Umdenken bei Rot-Grün: Die niedersächsische CDU nahm den Energiewendebericht wiederum zum Anlass für eine Generalabrechnung mit der Landesregierung. „Viele der Befunde widersprechen den bisherigen Annahmen des grünen Umweltministers“, sagte die energiepolitische Sprecherin Verena Kämmerling. Für die Landtagsabgeordnete aus Osnabrück wird dadurch deutlich, dass die Energiepolitik in Hannover bisher an den tatsächlichen Erfordernissen vorbeilaufe. „Die pauschale Ablehnung von CCS, die Unterschätzung der weiterhin notwendigen Rolle fossiler Energieträger für die Grundlast, die einseitige Ausrichtung auf grünen Wasserstoff oder auch starre Flächenvorgaben für Windkraftanlagen bei gleichzeitig überlasteten Netzen – all das sind Punkte, die ein Umdenken erforderlich machen", sagte Kämmerling.
  • Unternehmer loben Pläne für Kapazitätsmarkt: Wohlwollender fiel die Rückmeldung aus der Wirtschaft aus. Die Unternehmerverbände Niedersachsen (UVN) und der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) sehen in Reiches Linie weniger eine Abkehr von der Energiewende, sondern vielmehr einen Realitätscheck. „Wir brauchen realistische Bedarfsannahmen, um Überdimensionierung und Kostenexplosionen zu verhindern – und vor allem eine Synchronisierung von Netzausbau, Speichern und Wasserstoffprojekten, gerade mit Blick auf Niedersachsens Rolle als Spitzenreiter im Ausbau der Erneuerbaren“, mahnte UVN-Hauptgeschäftsführer Benedikt Hüppe und forderte nun die "richtigen politischen Schlüsse". Auch der BDEW, dessen Präsident der Oldenburger EWE-Chef Stefan Dohler ist, sieht die Ministerin auf dem richtigen Weg. Hauptgeschäftsführerin Kerstin Andreae sprach von einem „Anfang, der vieles wiedergibt, was wir bereits vorbereitet haben“. Vor allem müsse der Ausbau der Erneuerbaren stärker mit den Netzen in Einklang gebracht werden. Hüppe und Andreae lobten gleichermaßen den angekündigten Zubau von Gaskraftwerken, die auf Wasserstoff umgestellt werden können, sowie die Einführung eines Kapazitätsmarktes bis 2027. Gemeint ist damit ein zusätzlicher Markt, in dem nicht nur der produzierte Strom bezahlt wird, sondern auch die bloße Bereitstellung von Kraftwerksleistung. Betreiber würden also Geld dafür bekommen, dass ihre Anlagen im Notfall einspringen können – unabhängig davon, ob sie tatsächlich Strom liefern. Befürworter sehen darin einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit, Kritiker warnen vor neuen Kosten und Subventionen.
Matthias Boxberger (links) diskutiert mit Marco Mohrmann und Thordies Hanisch über den Netzausbau in Niedersachsen. | Foto: Avacon
  • Netzbetreiber fordern mehr Freileitungen: Auch die Netzbetreiber machten unmissverständlich klar, was aus ihrer Sicht Priorität haben muss. Avacon-Chef Matthias Boxberger, dessen Unternehmen in Niedersachsen eines der größten Strom- und Gasnetze betreibt, stellte klar: „Insbesondere im Energiewende-Land Niedersachsen muss Netzausbau Priorität haben, um die hier erzeugte grüne Energie effizient im ganzen Land nutzbar zu machen. Es braucht beschleunigte Genehmigungen, eine Verzahnung mit dem Ausbau der Erneuerbaren und eine Netzregulierung, die privatwirtschaftliche Investitionen in Netzinfrastruktur in Deutschland attraktiv macht.“ Unterstützung bekam er von den Übertragungsnetzbetreibern, die für die großen Stromautobahnen zuständig sind. Werner Götz, Chef von TransnetBW, begrüßte, dass im Bericht Kosten, Sicherheit und Klimaziele wieder stärker zusammen gedacht werden, und plädierte für neue Gleichstromtrassen als Freileitungen. Diese seien „das Gebot der Stunde“, weil sie Kosten und Zeit sparen und zugleich die Akzeptanz erhöhen könnten. Gemeinsam mit TenneT und 50Hertz hat TransnetBW dazu ein Positionspapier vorgelegt, in dem die Netzbetreiber vor teuren Hybridlösungen warnen und Freileitungen als günstigste und schnellste Lösung empfehlen.
  • Ökostrom-Branche warnt vor Neuausrichtung: Die Ökostrom-Branche deutet den Monitoringbericht als Bestätigung dafür, dass die Energiewende keine Neuausrichtung braucht. „Der Ausbau der Erneuerbaren muss unvermindert weitergehen. Es geht nicht um das Ob, sondern um das Wie der weiteren Umsetzung der Energiewende“, betonte Simone Peter, Präsidentin des Bundesverbands Erneuerbare Energien (BEE). Besonders warnte sie davor, die Förderung von Solaranlagen infrage zu stellen. „Eine Streichung der Vergütung für private PV-Anlagen wird wissenschaftlich damit nicht gedeckt und sollte politisch wieder vom Tisch genommen werden.“ Der Verband kritisiert zudem, dass das Potenzial der Bioenergie zu niedrig angesetzt sei. Gerade Biogas und Wasserkraft könnten zusammen mit Speichern eine flexible Reserve bilden, wenn Wind und Sonne nicht liefern. Auch die von Reiche favorisierte CO2-Speicherung lehnt der BEE ab: Sie sei teuer, risikobehaftet und lenke vom notwendigen Ausbau der Erneuerbaren ab.
Dieser Artikel erschien am 17.9.2025 in Ausgabe #162.
Christian Wilhelm Link
AutorChristian Wilhelm Link

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