1. Dez. 2025 · 
Pro und ContraBildung

Ist jahrgangsübergreifender Unterricht in den Grundschulen eine sinnvolle Reformidee?

Das Kultusministerium diskutiert über neue Formen im Schulgesetz - auch darüber, mehrere Klassen in einer Schule zusammen zu unterrichten. Dazu ein Pro und Contra.

Das Kultusministerium startet nun mit der Überarbeitung des Schulgesetzes. Ministerin Julia Hamburg will dazu viele Positionen zusammenbringen – und an einigen Punkten Veränderungen vornehmen. Ein Punkt ist der „jahrgangsübergreifende Unterricht“ in den Grundschulen. Ist das die richtige Antwort auf den Geburtenrückgang gerade in einigen ländlichen Gebieten? Die Rundblick-Redaktion diskutiert darüber in einem Pro und Contra.


PRO: Der jahrgangsübergreifende Unterricht kann vor allem im ländlichen Raum praktisch sein. Er bietet aber auch inhaltlich gute Ansätze, um ein gemeinsames Lernen zum sozialen Gruppenerlebnis zu machen, in dem die Lehrkraft zwar den Rahmen steckt, die Kinder aber selbst auch mitwirken, meint Niklas Kleinwächter.

  • Kurze Beine, kurze Wege: Ab dem dritten Schultag bin ich allein zur Schule gegangen. Wir waren drei Kinder aus meiner direkten Nachbarschaft, die in dieselbe Klasse gingen. Gemeinsam traten wir den Schulweg an und erkundeten so unsere Umwelt – eigenständig, aber niemals allein. Das war ein wichtiger Schritt hin zu einem selbstbewussten Leben. Elterntaxi? Nicht mit uns. Je kleiner die Nachbarschaft, desto weiter jedoch die Schulwege. Ein Konzept, das wohnortnahe Beschulung auch in Zukunft sichert, ist daher zu begrüßen. Sollte also eine kleine Grundschule Probleme haben, eine Jahrgangsstufe voll besetzen zu können, wäre der jahrgangsübergreifende Unterricht allein aus praktischen Erwägungen sinnvoll. Ältere Semester denken dabei vielleicht zurück an die klassische Dorfschule, in der vorne die kleinen und hinten die großen Kinder saßen. Besser als eine stundenlange Busfahrt und Klassen, in denen Kinder bunt aus weit entfernten Nachbarschaften zusammengewürfelt werden, ist dieses Modell allemal.


  • Großer-Bruder-Effekt: Ich habe das große Glück, einen großen Bruder zu haben. Was auch immer mir in den ersten Jahren meines Schullebens begegnete: Mein Bruder kannte das schon. Ob Kopfrechnen, Kontinente oder Klassenfahrten – alles war bereits am heimischen Küchentisch Thema gewesen. So traf mich wenig unvorbereitet, fast alles lernte ich doppelt. Und doppelt hält bekanntlich besser. Dieses Glück haben nicht alle Kinder. Und vor allem werden es immer weniger Familien, in denen es Geschwister gibt. Das kann sich auf soziale Kompetenzen auswirken, aber auch auf kognitive Fähigkeiten. Eine Grundschule mit jahrgangsübergreifendem Unterricht ersetzt zwar nicht den großen Bruder (oder die große Schwester), aber sie schafft einen Raum, in dem Kinder unterschiedlicher Erfahrungsstufen miteinander lernen. Zunächst auf jeden Fall die Kleinen von den Großen.


  • Wer erklärt, begreift: Später, als ich dann älter wurde und anfing, jüngeren Schülern Nachhilfe zu geben, entdeckte ich die andere Seite. Es reichte nicht mehr nur, den aktuellen Unterrichtsstoff zu begreifen. Ich musste mich auch aktiv an die Inhalte der Vorjahre erinnern. Wie lautete noch die dritte binomische Formel? Welche Ordnungszahl hat Magnesium? Und wofür verwendet man die Knallgasprobe? Nach dem ersten Verstehen und dem späteren Erinnern kam dann das Erklären. Nicht selten fiel mir auf, dass ich bestimmte Dinge gar nicht mehr so klar im Kopf hatte, wie ich es dachte. Also musste ich selber noch einmal nachlesen und mir dann überlegen, wie ich das einem jüngeren Mitschüler angemessen vermitteln kann. Auf diese Weise leuchteten mir nicht selten auch die aktuellen Inhalte meines eigenen Unterrichtsprogramms plötzlich viel mehr ein. Dieser Effekt ist nicht zu vernachlässigen: Es sind nicht nur die kleinen Kinder, die von den großen profitieren. Das gemeinsame Lernen kann beide Seiten stärken. Allerdings muss beim jahrgangsübergreifenden Unterricht gut darauf geachtet werden, dass der Trend nicht nach unten weist. Die Älteren dürfen sich nicht damit begnügen, die einfachen Aufgaben zu lösen. Sie müssen immer auch selbst voranschreiten und entsprechend gefordert werden.


  • Anreiz und Schutzraum: Ein homogenes Umfeld kann den Kopf entlasten. Es fordert aber auch nicht besonders heraus. Und wie realistisch ist es denn bitte, dass man im eigenen Umfeld nur Gleichaltrige hat? Weder im Kindergarten noch an der Uni und erst recht nicht im Berufsleben ist das so. Nur die Institution Schule setzt auf gleiche Altersgruppen. Dabei sollte klar sein, dass die kognitive Entwicklung nicht bei jedem Kind gleich verläuft. Manche sind schneller, andere brauchen noch etwas länger. Das hängt nicht an der Anzahl an Kerzen auf der Geburtstagstorte, sondern braucht manchmal einfach Zeit und Raum. Eine Grundschule, in der die Jahrgänge gemeinsam lernen, kann entsprechende Anreize für Entwicklung setzen – aber auch Schutzräume für jene bieten, die noch etwas brauchen. Und: Allzu groß sind die Altersunterschiede ja auch in einer Grundschule nicht.

CONTRA: Jedes Kind sollte optimal gefördert werden – und dazu braucht es gute Lehrer, eine möglichst individuelle Ansprache und moderne Lehrmethoden. Mit dem jahrgangsübergreifenden Unterricht wird aber der falsche Weg beschritten, meint Klaus Wallbaum.

Der „jahrgangsübergreifende Unterricht“ in den Grundschulen mag pädagogische Vorteile haben – gerade für die kleineren Kinder. Wenn sie zusammen mit großen in bestimmten Fächern beschult werden, können diejenigen von ihnen, die schon ganz weit sind, einiges von den Älteren abgucken. Oder die Älteren lernen, wie sie Kleineren etwas beibringen – und auch das hätte ja einen Lerneffekt. Sicher, solche Entwicklungen sind möglich. Aber machen wir uns nichts vor: Tatsächlich entspringt die Idee des „jahrgangsübergreifenden Unterrichts“ einer Überlegung, dem Mangelzustand in vielen Grundschulen zu begegnen.

Stellen wir uns ein kleines Dorf in Niedersachsen vor, das fünf Kilometer vom Nachbarort entfernt liegt. Es gibt Baugebiete, eine Grundschule, eine Kirche und einen Supermarkt. Die Arztpraxis liegt auch um die Ecke. Die Grundschule ist seit jeher einzügig, bisher aber gab es immer rund 15 bis 20 Kinder je Klasse. Irgendwann kann ein Zustand eintreten, bei dem nur noch acht oder zehn Kinder eingeschult werden. Dann könnte der „jahrgangsübergreifende Unterricht“ darin bestehen, dass die Klassen eins und zwei oder drei und vier zusammen unterrichtet werden. Damit könnten die Lehrer effektiver eingesetzt werden. Das Ministerium will solche Möglichkeiten künftig erleichtern. Für dieses Konzept gibt es einen wichtigen, ganz überzeugenden Grund: Die Grundschulkinder könnten im Ort bleiben, sie müssten nicht für den Schulbesuch in eine Nachbarkommune oder eine zentrale Grundschule, die mehrere Orte betreut, gefahren werden.

Diese Ortsbezogenheit der Grundschulzeit für kleine Kinder ist verständlich, ja sie ist seit vielen Jahrzehnten geübte Praxis. Erlasse zum Erhalt von „kleinen Grundschulen“, auch jenseits einer angenommenen Mindest-Schülerzahl, gibt es seit Jahrzehnten. Allerdings besteht die Gefahr, dass bei dieser Sichtweise die lokalpolitischen Belange gegenüber den pädagogischen überwiegen. Natürlich möchten viele Eltern ihr Kind in der Nähe wissen, schon allein deshalb, weil bei Stundenausfall oder verspätetem Unterrichtsbeginn so der Aufwand für den Weg zur Schule und von der Schule nach Hause minimiert werden kann. Dieser Aspekt wird künftig aber wohl weniger relevant werden, da die festen Betreuungszeiten von fünf Stunden je Tag in den kommenden Jahren immer verbindlicher werden sollen. Der Rechtsanspruch auf die Ganztagsbetreuung in Grundschulen beinhaltet mehr als eine bloße Unterrichtsgarantie. Dort gibt es Angebote für eine sinnvolle Beschäftigung am Nachmittag, Hausaufgabenhilfe und Ähnliches.

Bei Schülermangel in ländlichen Orten kann es die bessere Alternative sein, die Grundschule im Dorf zu schließen und die Kinder mit dem Bus in eine zentrale Grundschule zu bringen. Der Vorteil läge auf der Hand: Solchen zentralen Einrichtungen gelänge es vermutlich besser, ausreichend qualifizierte Lehrer zu gewinnen, ein gutes Betreuungsangebot für den Nachmittag zu organisieren und insgesamt ein Umfeld zu schaffen, in dem es leichter möglich ist, auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Ein Negativ-Szenario einer kleinen Grundschule im Dorf sähe nämlich so aus: Mit Müh‘ und Not gelänge es, einen oder zwei Lehrer zu gewinnen. Wenn beide krank werden, kommt als Ausweichlösung der „Distanzunterricht“ in Betracht – die Wissensvermittlung am Bildschirm. Auch dies kann nicht ohne Personal in der Schule organisiert werden, und so könnten pädagogisch nur schlecht ausgebildete Betreuer für die Aufsicht beim Distanzunterricht eingesetzt werden. Dass eine solche Variante das optimale Umfeld böte, den jungen Menschen Anreiz und Freude am Lernen zu vermitteln, darf bezweifelt werden.

In ihrer Angst, nach dem Arzt, dem Supermarkt, dem Bäcker und dem Fleischer noch die Grundschule vor Ort zu verlieren, könnten manche Lokalpolitiker versucht sein, den Erhalt ihrer Grundschule mit allen Mitteln zu verteidigen. Die Gefahr ist groß, dass dann das Argument des Bewahrens der dörflichen Gemeinschaft ganz überwiegend ist – und die Frage, was gut für die Kinder ist, hinten angestellt wird. Das darf nicht passieren.

Dieser Artikel erschien am 2.12.2025 in Ausgabe #214.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

Artikel teilen

Teilen via Facebook
Teilen via LinkedIn
Teilen via X
Teilen via E-Mail